Ein Derby-Sieger für ganz Deutschland
Days of Thunder bricht die Oranje-Dominanz – Dickes Trostpflaster für Hockstedt – Jugend-Preis: kleiner Bruder ganz groß
(MW) „Berlin, nun freue dich!“ Diese Worte Walter
Mompers zur Öffnung des Brandenburger Tores in Berlin am 22. Dezember 1989 mag
manch einer am Sonntag ab 19.25 Uhr im Hinterkopf gehabt haben, als das
Ergebnis des trotto.de 127. Deutschen
Traber-Derbys offiziell feststand. Schon als Thorsten Tietz und Days of
Thunder ein paar Minuten zuvor eine Länge vor dem haushohen Favoriten Usain
Lobell durchs Ziel gerauscht waren, kannte der Jubel keine Grenzen. Zumindest
den deutschen Traber-Fans fiel ein Stein vom Herzen. Obwohl die Berliner immer
gern und leidenschaftlich Gastgeber des bedeutendsten Traber-Meetings der
Republik sind, waren sie doch der Dominanz der in den Niederlanden
vorbereiteten, bis 2021 besten dreijährigen Traber müde. Geschlagene zehn Jahre
war es her, dass der in Bayern von Josef Franzl trainierte Dream Magic BE das
Blaue Band in deutschen Landen gehalten hatte. Eine Dekade später und bei einer
weiteren Zäsur des mit 325.226 Euro dotierten wertvollsten Trabrennens, das
sich erstmals in seiner seit 1895 fortgeschriebenen Historie an vierjährige
Traber wendete, ließen die beiden Traber-Deutschland von Süd nach Nord, von Ost
nach West strahlen, hatte doch jede Region ihren mehr oder minder großen Anteil
an diesem Coup.
Den
bedeutendsten hatte Bayern. Geboren und groß gezogen wurde der bei vierfachen
Odds zum engsten Favoritenkreis zählende Days of Thunder auf dem
Traditionsgestüt Mutzenhof östlich
von München vom Team um Gestütsleiter Werner Kammermeier unter recht
dramatischen Umständen: Der Kleine wollte anfangs nicht trinken. Geformt vom
bayerischen Urgestein Robert Gramüller,
gemanagt von dessen Sohn Marcus. Eine weitere weiß-blau-freistaatliche Note
trägt Johann Holzapfel bei, der als
Mitbesitzer nach Dream Magic BE 2012, Tsunami Diamant 2017 und Wild West
Diamant 2020 zum vierten Mal die Honneurs entgegennahm. Gleich für zwei
Regionen ist Thorsten Tietz zuständig: Geboren und
aufgewachsen im Ruhrpott, dort, wo einst das Herz des Trabrennsports am
intensivsten schlug, hat er vor mehr als einem Jahrzehnt seine Zelte in Berlin,
ja sogar in Mariendorf aufgeschlagen und formt seitdem mit viel Erfolg im
Umland der Hauptstadt seine Rösser. Selbst der Norden kommt nicht zu kurz. Der
Hamburger Florian Marcussen, auch er
aus einer Traberfamilie stammend, ist seit Jahr und Tag Teilhaber in diversen
Besitzergemeinschaften und hat mit diesem Days of Thunder das große Los
erwischt.
Für Tietz
war es eine echte Genugtuung, nachdem er sich vor genau zehn Jahren erst für 30
Minuten, später, nach dem Urteil des Berliner Amtsgerichts, das durchs Kammergericht
in letzter Instanz wieder gekippt worden war, für ein paar Monate schon einmal
als Derby-Sieger hatte fühlen können. Das Drama um Chapeau 2012 lief gewiss vor
des einen oder anderen geistigem Auge ab, und auch bei im Galopp ihre Chancen
aufs Blaue Band versiebenden Cash Hanover (2015) und Days of Thunder (2021) war
Fortuna dem 44-Jährigen abhold.
In der
ihm eigenen bündigen Art analysierte Tietz nach dem größten Wurf seiner an „big
points“ nicht eben armen Karriere, „dass das Rennen für mich völlig anders als
gedacht lief. Ich habe Days of Thunder bewusst nicht mit vollem Risiko
losgeschickt, weil ich dachte, einige andere würden rasant beginnen. Aber dann
war es nur Rob The Bank, der bald von Lorens Flevo abgelöst wurde, ich war
plötzlich in der Todesspur, neben mir Usain Lobell, den ich im ersten Bogen
unbedingt ein paar Meter mehr laufen lassen wollte, und als Michael (Nimczyk)
dann etwas Tempo herausnahm, dachte ich: ‚Jetzt kannst du auch ganz nach vorn
fahren und Usain Lobell in jeder Kurve ein paar Meter mehr aufdrücken‘. Vor
fünf Wochen im Buddenbrock-Rennen saß Robin (Bakker) hinter dem an der letzten
Ecke mit vollen Händen und hat uns leicht abgekanzelt. Diesmal sah er nicht so
souverän aus. Ich dachte, ich fahr mal ab, um das Heft des Handelns in der Hand
zu behalten.“
Gesagt,
getan - getragen von einer seit Jahren nicht mehr erlebten Woge der
Begeisterung zum Happyend. An der Vorstellung hatte auch „Oberkritikaster“
Robert Gramüller nichts zu mäkeln: „Thorsten hat‘s brillant gelöst. Er ist ein
messerscharfer Taktiker und Analytiker, der beste, den ich kenne, weiß über die
Stärken und Schwächen jedes Gegners Bescheid.“ Nervös war Tietz vorher nach
eigenem Bekunden nicht: „Es ist mein Job. Ich habe nur zehn Minuten Heat
gefahren und dann das Rennen. Die Grundlagen, dass ich mich heute feiern lassen
darf, hat das Team um Robert in viel Kleinarbeit gelegt. Es mussten alle
Rädchen ineinandergreifen, und heute, am Tag X, hat eben alles wie erhofft
perfekt gepasst. Sonst hätte es wohl gegen Usain Lobell, den ich dennoch für
den Besten des Jahrgangs halte, nicht gereicht.“
Gepasst
hat eben auch die Umstellung des Derbys von drei- auf vierjährig, die allen
eine zweite Chance bescherte und die Days of Thunder wie Usain Lobell, die bei
der „Erstauflage“ 2021 früh im Galopp ausgefallen waren, zu nutzen wussten.
154.613 Euro war Platz eins, 77.306 Euro Platz zwei des in allen Ehren
unterlegenen Usain Lobell wert.
„Bronze“ ging durch Grand Ready Cash und Dion Tesselaar nach Holland an die
Carpe Diem Stables, die Plätze vier und fünf durch Staccato HL, den besten
der drei von Wolfgang Nimczyk vorbereiteten Aspiranten, und den
„Flüsterfavoriten“ Teatox an Stall
Germania und Stall Wieserhof, mithin bayerische Farben. Dem unterwegs
verlockend günstig liegenden Vorjahrssieger Lorens Flevo misslang
die Titelverteidigung als Siebenter hingegen gründlich. Nebenbei verbesserte
Days of Thunder mit Beginn der „Vierjährigen-Ära“ mit 1:12,0 den Derby-Rekord
von Wild West Diamant aus dem Jahr 2020 um eine Zehntelsekunde.
Trostpflaster nach Berlin und Kaarst
Das mit
20.000 Euro dotierte Derby-B-Finale
wurde für Hockstedt zur vorläufigen
Krönung eines erstklassigen Jahres, das mit dem Sieg im Münchner Pokal schon
nicht von schlechten Eltern war. Einiges leisten musste der Prodigious-Sohn, um
an Waldgeist vorbei in Front zu kommen, wo er für die Schlussrunde vom knapp
vor ihm zum Favoriten erkorenen Gladiator As begleitet wurde. Dieses Duo machte
in einem tollen Finish die ersten beiden Schecks unter sich aus, wobei es um
jeden Zentimeter ging und der aus Zucht und Besitz der am Niederrhein
beheimateten Familie Gentz stammende Hockstedt mit Victor Gentz für den neunten Treffer „lifetime“ ein Quäntchen mehr
zu bieten hatte. Platz drei ging an Lozano, weil der innen festsitzende
Waldgeist sich kurz vorm Pfosten um Kopf und Kragen sprang.
Jugend-Preis: Yin Yang auf des großen Bruders
Spuren?
Viele
Augen waren schon wegen seiner noblen Abstammung auf Yin Yang gerichtet, der Bold Eagle, der Welt gewinnreichsten Traber
aller Zeiten, und Lobell Countess, die deutsche Derby-Siegerin von 2011, als
Eltern hat und von Paul Hagoort auf die Rennkarriere vorbereitet wird. Obwohl
ein anderer Typ als sein prominenter großer Bruder Usain Lobell, durfte er sich
wie jener nach verhaltenem Beginn seinen Weg durch die Außenspur selbst bahnen.
Das war für den Hengst „kein Problem, denn so konnte er frei laufen und ich das
Tempo kontrollieren“, kommentierte Robin
Bakker im Nachgang, „Ich wusste, wie er trainiert hat, und habe ihm einen
solchen Gang zugetraut.“ Yin Yang präsentierte sich als kompletter Renner, der
die nach 700 Metern gegen Nelson Greenwood nach vorn gezogene Bella Ciao BR
sicher im Griff hatte und sich von der fein nachsetzenden Sierra S die Butter
nicht mehr vom mit insgesamt 20.000 Euro gut belegten Brot kratzen ließ. „Ein
Pferd mit viel Potential, das noch zwei Jahre Entwicklungszeit hat, bis es ins
erklärte Ziel Deutsches Traber-Derby geht“, war Bakkers Fazit.
Ein Inspector auf der Rekordmeile
Dank
einer abgezockten, wegen Startreihe zwei notgedrungen defensiven Fuhre von Jaap van Rijn holte sich Inspector Bros
mit tollem Endspurt die Askania
Rekordmeile in 1:11,4. Auch die Plätze zwei und drei gingen durch Major
Ass, dessen 1:10,7-Bahnrekord nach einem sehr mauen zweiten Drittel nie in
Gefahr geriet, und Halva von Haithabu an Pferde, die sich aus dem vorderen
Gefecht lange herausgehalten hatten. Von Massai, Orkan von Haithabu und Mister
Ed Hedia, den Protagonisten des ersten Kilometers, war am Ende nichts mehr zu
sehen.
Ins
Kuriositätenkabinett gehört das 1.
Rennen der so oft zu Unrecht als Hammelklasse titulierten Gewinnärmsten,
die diesmal ihrer saloppen Bezeichnung alle Ehre machte und sprangen wie die
Ziegenböcke: Von den sieben Aspiranten kam nur einer fehlerlos durch: der von Thomas Buley gesteuerte Amaro. Ansonsten erreichte nur noch
Gerhard Mayrs Heaven On Earth trotz eines kurzen Aussetzers im Schlussbogen den
Zielstrich ohne Beanstandungen der Stewards.
Nicht
besser lief‘s im Pokal der
Derby-Champions, an dem nur Fahrer teilnehmen durften, die mindestens das Deutsche
Derby oder Stuten-Derby gewonnen hatten. 32 Erfolge waren es insgesamt, die die
sechs Piloten auf die Waagschale legen konnten, mit 17 die meisten steuerte
Heinz Wewering bei. Der Platinhelm kannte keine Angst vor großen Tieren, griff
den früh mit Michael Schmid in Front
gezogenen Casino Royale kurz vorm
Schlussbogen an und hatte den Pott fast schon geknackt, als ihm Messi Hazelaar
kurz vorm Ziel aus dem Takt kam. Der Sieg ging an Casino Royale, das war
dadurch klar, und „mit zwei kräftig zugedrückten Augen“ durften HW und sein
vierbeiniger Partner nach „Enquête“ Platz zwei behalten; mehr erreichten das
Ziel in der vom Zuchtziel vorgegebenen Gangart nicht.
Lauf 1 eines
weiteren Kombi-Pokals wurde unterm Sattel bestritten, wobei sich ein Quartett
besonders hervortat. Mit dem in Berlin bestens bekannten Purple Rain ergriff Lea Ahokas die Initiative, wurde sofort von Mephisto PS begleitet, und
auch Nelly Pepper und Paris Turf ließen nicht allzu lange auf sich warten. Der
toll durchziehende Purple Rain war auch von Nelly Pepper nicht zu erschüttern,
so dass Deutschlands Dauer-Championesse Ronja Walter ausnahmsweise mal nicht im
Winner Circle aufkreuzte. Prächtig dabei blieben Paris Turf und der wackere
Mephisto PS. Das identische Ergebnis gab’s im den Sulky-Profis vorbehaltenen 2. Lauf. Diesmal versuchte sich
Mephisto PS als Tempomacher und Purple
Rain bis 500 Meter vorm Ziel aus der Deckung. Dann machte Jaap van Rijn ernst. Ausgangs der
letzten Biege hatte der Fast-Photo-Sohn den „Teufel“ geknackt und ließ sich
weder von Nelly Pepper noch Paris Turf in die Bredouille bringen.
Im früh
im Programm anstehenden Derby-Ausklang
der Profis war der von Thomas
Panschow nach kurzem Zögern an die Spitze gescheuchte Gentle du Noyer eine Macht und kam
gegen einen außen herum bärenstarken Athanasius und die lange eingesperrte, zu
spät auf Touren kommende Pearl Kayz sicher hin. Der Absacker für die Amateure wurde zur überlegenen Beute
von Nyx Hillperon und Silvia Raspe. Die zähe, ins belgische
Gestütbuch eingetragene Fuchsstute nahm die Todesspur nicht krumm und setzte
sich auf der Zielgeraden auf sechs Längen von der Verfolgergruppe ab, aus der
sich Real Perfect als Bester herausschälte.
Der
Größte ist er nicht, aber ein Kämpfer vor dem Herrn, dieser Othello PS, der aus Startplatz „2“
nichts machen konnte und bei dem Victor
Gentz auf dessen Kampfkraft baute. Aus dem Schlussbogen wurde der
vierjährige Hengst immer stärker, sammelte die zügig nach vorn beorderte Cataleya
sicher ein - und kickte seinen Steuermann auf dem Rückweg zum Stall aus dem
Sulky, was Pferd und Fahrer zum Glück unbeschadet überstanden.
Ein
letztes Mal durften sich die Trotteurs
français austoben, und das über die einstige Derby-Distanz von 3.200 Metern
überaus gründlich. Kein Verlieren schien es für Garuda Fligny zu geben, der
seine 40 Meter Zulage rasch wettmachte und zwei Runden lang den Begleiter der
tapferen Grietje spielte, die den zügigen Takt vorgab. Dann gab der deutsche
Champion entschlossen Gas, setzte sich um einige Längen ab, hatte sich damit
jedoch ein wenig übernommen. Plötzlich waren drei Herausforderer da, von denen
sich Deniro mit Rudi Haller als der stärkste herausschälte und sich am Favoriten
vorbeibiss. Der bayerische Spitzenprofi stand am Derby-Finaltag noch ein
zweites Mal im Mittelpunkt. Nämlich bei der offiziellen Verabschiedung eines
Großen – des vermutlich Besten, den er bisher im Training hatte: Orlando Jet
nahm noch einmal den tosenden Applaus des Mariendorfer Publikums
entgegen.
Kurz vor
Toresschluss langte es für Michael
Nimczyk, der bis dato am Derby-Tag wenig Fortune entwickelt hatte, zum
obligatorischen Sieg, für den Forza
Laser sich aus dem Mittelfeld tapfer reinhängte und vorbildlich kämpfte.
Nicht „Ladies first“, sondern „Ladies last“: Das letzte Rennen des Meetings war
sechs hochkarätigen Stuten vorbehalten. Als hätte Forza Laser eine Sperre
gelöst, schnappte sich der deutsche Goldhelm mit der knurrigen, auf den finalen
300 Metern aus dem Mittelfeld fightenden Kiss
Me Bo den zweiten Punkt zum für ihn dann doch noch versöhnlichen Abschluss.
Der Umsatz ging trotz einer überlangen
Verspätung um mehr als eine Stunde durch die Decke nach oben. Pro Rennen hatten
im Vergleich zum Derby-Tag 2021, an dem durchschnittlich 43.065 Euro gedreht
wurden, die Totokassen diesmal 50.074 Euro zu verarbeiten. Ein gerüttelt Maß
trug die V7+-Wette bei, die dank des am Vortag generierten Jackpots mehr als
107.000 Euro einspielte.
Umsatz bei 14 Rennen: 701.040,26 Euro (incl.
377.305,06 Euro Außenumsatz), davon 107.361,95
Euro in der V7+-Wette. Zum Vergleich der Umsatz 2021: 559.849,04 Euro bei 13 Rennen, davon 62.547,20 Euro in der V7+-Wette.